Aber für mich ist solche Konferenzberichterstattung auch immer das Nachdenken über die Konferenz. Diese Gedanken sind ganz persönlich und auch von meinem Highlight geprägt – den Ausführungen von Melissa Bell, Gründerin und Chefredakteurin von Vox, zur Zukunft des Geschäftsmodells Journalismus an der Schnittstelle von Technik, Business und Journalismus.
„Ich denke über unser Unternehmen wie über einen Tisch mit drei Beinen nach. Business, Technik und Journalismus sind gleich wichtig. Wenn eins davon wacklig hat, hat man ein Problem.“
Meine krude Zeichnung soll das ansatzweise bebildern.
Wenn Melissa Bell, Chefredakteurin von Vox.com, über die Arbeit an ihrer Digital-only-Publikation spricht, wird sie immer schneller beim Sprechen vor Begeisterung. „Wenn ich zu schnell sprechen sollte, winkt einfach.“
Vocer, ein Debattenforum und Think Tank zur Medienkritik, hatte zum Innovation Day ins Spiegel-Gebäude geladen. Und zu den Rednern gehörte eben Melissa Bell, aber auch Rasmus Nielsen, der mit der aktuellen Ausgabe des Reuters Institute Digital News Report gerade für Aufsehen gesorgt hatte.
Was am allerklarsten wurde: Das Allheilmittel, dem Journalismus gerade bei jungen Menschen zu mehr Relevanz und Glanz zu verhelfen, gibt es nicht. Zwischen der Elterngeneration und den Millennials / Digital Natives geht ein Graben vor. Der stets pointiert formulierende Rasmus Nielsen meinte: „Die Mediengewohnheiten eurer Eltern finanzieren euren Job.“
„Euer Gehalt wird immer noch durch die Mediengewohnheiten eurer Eltern bezahlt. Ihr seid nicht profitabel.“ Autsch, Herr Nielsen #vid15
— Dominic Grzbielok (@krautsource) 20. Juni 2015
In Sachen Relevanz: Spiegel-Redakteur Jürgen Dahlkamp etwa stimmte zu, dass bei einer großen Enthüllung durch das Magazin die Republik nicht mehr so wackele, wie sie es in unserer Erinnerung von großem Journalismus früher getan hatte. Sein aktuellstes Beispiel: die Beziehung der alten Bundesregierung zu kasachischen Politikern.
Dabei ist gerade diese Kasachstan-Affäre, die sich nicht mal einen Spitznamen in der allgemeinen Wahrnehmung verdient hat, ein gutes Beispiel für das, was Journalismus seinen Kunden antut. Diese verstehen kaum noch jedes Detail einer Geschichte. Der alte Journalismus füllt aber seine Sendezeiten und Quadratzentimeter und andere begrenzten Formen mit Details und Analysen von Details und Gesprächen darüber. The Big Picture? Das wird selten hergestellt, und wenn, dann in einem der letzten Absätze einer News. Das ist das Prinzip der umgekehrten Pyramide. Meistens ist im Nachrichtenjournalismus nach Kern und Quelle Schluss.
Melissa Bell hat das 2014 in einem Gespräch mit dem Guardian ganz gut zusammengefasst, was sie als Überforderung des Lesers begreift:
„It was amazing to me as a reader how quickly I felt I fell off the news cycle,“ she says. „If I wasn’t paying attention to the rapid developments, it was difficult for me to understand what was happening in major news stories. When I took that step back I realised the challenge of being a reader.“
Mir geht das auch so. Die wievielte Ukraine-Geschichte oder Meldung über Grexit ist es, die den Nutzer über den Sättigungspunkt treibt? Das ist wohl höchst unterschiedlich, aber es bleibt ein Problem.
Da setzt der Erklärjournalismus an, für den Melissa Bells Publikation Vox.com bekannt ist. Bekannt geworden sind die Kartenstapel, mit denen komplexe Zusammenhänge in wenigen Sätzen zusammengefasst werden. Diese sind einbettbar in andere Seiten, so wie man das von Tweets oder YouTube-Videos kennt. Ein Beispiel zu Hillary Clinton:
Damit folgt Vox einer Forderung des Journalismus-Professors Jeff Jarvis (CUNY), der solche Produkte seit mehreren Jahren fordert.
Diese Versuche, anders zu erzählen, lobt Rasmus Nielsen, Professor am Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford. Von der Kultur des Scheiterns spricht er mit einem geschickten Reframing:
In der Wissenschaft nennt man Failure nicht so, sondern Experimente, sagt @rasmus_kleis #reframing #vid15 pic.twitter.com/cRKlR4pPQa
— Dominic Grzbielok (@krautsource)
Melissa Bell erzählt vom großen Experimentierbaukasten bei Vox:
1.Speakerin @MelissaBell folgt bei @voxdotcom der Frage „What does digital mean to news?“ – „go beyond“ mit 35 entwickelten Formaten #vid15
— Natalie Mayroth (@blogmaedchen)
35 Formate. Wahrscheinlich schaffen das nicht mal alle Entwicklungsredaktionen deutscher Medienhäuser GEMEINSAM in einem Jahr. Vieles davon passiert übrigens in der Öffentlichkeit. Bell ist die erste Chefredakteurin, die ich treffe, die als URL im Gespräch auf ihren Github-Account bei Vox Media hinweist.
Angesichts der vielen jungen Journalisten, gerade auch auf der Bühne mit den Rednern und in den Workshops, ist mir 2015 nicht mehr ganz so Angst und Bange, wie es das vor einigen Jahren noch war. Wir werden eine Zielgruppe verlieren, und wir werden sie uns wieder erobern müssen. Der Kahlschlag steht uns noch bevor. Die rezessionserfahrenen Journalisten aus den USA kennen das schon. Erst ein bisschen sterben, dann wie Phoenix aus der Asche. Immer neue Runden des Kostensenkens. Auch insofern war der Ort, das Spiegel-Verlagsgebäude, bezeichnend. Auch dieses marmorn glänzende Vorzeige-Objekt der Demokratie, es muss sparen.
Da bei Verlagen der Personalbereich gegenüber den Sachkosten (Papier, Druck, Dienstreisen) oft den größten Kostenblock darstellt, ist das Ziel, daran lässt Geschäftsführer Thomas Hass keinen Zweifel, ohne Stellenstreichungen nicht zu erreichen – betriebsbedingte Kündigungen nicht ausgeschlossen. Diese wären ein Novum